Schulsystem sorgt
für schlechte Schüler

Wolfgang Steinig würde Kinder nicht
nach der vierten Klasse trennen

Die gesprochene Sprache wandelt sich. Das kann jeder auf der Straße hören. Aber was passiert mit der Schreibsprache? Und welchen Anteil hat das Schulsystem daran? Professor Wolfgang Steinig untersuchte Texte von Grundschülern und kommt zu einem deutlichen Ergebnis: Er sieht das dreigliedrige Schulsystem als gescheitert.
Der Wissenschaftler hat 1972 insgesamt 23 Klassen der vierten Jahrgangstufe im Anschluss an einen Kurzfilm einen Text schreiben lassen. "Ich hatte die erste Untersuchung seit meiner Dissertation in der Schublade liegen." 2002 besuchte er dieselben Schulen im östlichen Ruhrgebiet und zeigte den Film erneut. Im Vergleich untersucht Wolfgang Steinig jetzt den Schreibsprachwandel anhand von Textumfang, Orthographie, Grammatik und Erzählgestaltung ( siehe Hintergrund).
Die PISA-Untersuchung habe sich mit dem Lesen beschäftigt, so der Forscher. Viel wichtiger sei es jedoch, sich mit dem Schreiben auseinanderzusetzen, denn die Lehrer geben nach diesen Fähigkeiten ihre Noten. Daraus folge letztendlich auch die Selektion der Grundschüler. Und die Infragestellung dieser Selektion ist der Kern von Wolfgang Steinigs Interesse.

"Das Bürgertum will seine Kinder in einem behüteten Raum
aufwachsen lassen und sie von anderen sozialen Schichten abgrenzen", sagt Prof. Wolfgang Steinig.

Insgesamt haben die orthographischen Fehler bei den Schülern im Jahr 2002 zugenommen, stellte der Professor fest. Dafür nutzten die Kinder einen größeren Wortschatz. Bei den Begriffen, die von der jeweiligen Gruppe alleine benutzt wurden, übertrafen die heutigen Schüler die 70er-Kinder um das Zwei- bis Dreifache. "Das liegt auch an der veränderten Sprachdidaktik", erklärt Wolfgang Steinig. "Heute können die Kinder in der Schule kreativere, offenere Texte schreiben." 1972 orientierten sich die Lehrer dagegen stärker an Textnormen und die Schüler verfolgten eine Fehler-Vermeidungs-Strategie. Wenn 2002 ein Schüler Dackel schrieb, hätte er 1972 eher das allgemeine Wort Hund verwendet.
Heute stehen auch die Lehrer vor größeren Herausforderungen. Bei der Untersuchung vor 30 Jahren waren alle Kinder einsprachig aufwachsende Deutsche, 2002 hatten 25 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. Auch die Schere zwischen guten und schlechten Schülern war in der zweiten Erhebung größer.
"Ich vermute, es liegt auch an dem Druck, den viele Eltern ihren Kindern machen", so Wolfgang Steinig. In den 70ern ging es der Schule darum, auf einer Leistungsebene zu fördern, weil nicht viele Schüler das Gymnasium anstrebten. Heute ist es für die Eltern als Zeichen ihres sozialen Status wichtig, dass die Kinder aufs Gymnasium gehen. Daran kann ein Zehnjähriger auch zerbrechen.
"Das Bürgertum will seine Kinder in einem behüteten Raum aufwachsen lassen und sie von anderen sozialen Schichten abgrenzen", sagt Wolfgang Steinig. Auch PISA habe gezeigt, dass Deutschland am Schlechtesten bei der Förderung von benachteiligten Kindern abschneide. "Wir lagen bei PISA so weit hinten, weil die schlechten Schüler so schlecht sind. Die guten sind ja gut."
Wolfgang Steinig meint, die Schüler nach der vierten Klasse auf die weiterführenden Schulen zu verteilen, ist falsch. "Alle, die etwas von Bildung verstehen, sind sich da einig." Mit einem Wechsel auf die Hauptschule sei die Karriere meist vorprogrammiert. "Ich werde Hartz-IV", antwortete ein Junge als er nach seinem Berufswunsch gefragt wurde. Viele sehen keine Chance mehr für sich und lassen sich hängen. Wenn die Schüler aber länger zusammen lernen könnten, würden alle davon profitieren, so Wolfgang Steinig. Die guten könnten sich als Tutoren versuchen und sich in Leistungskursen profilieren, die schlechteren hätten Vorbilder unter den Gleichaltrigen und müssten zusätzlich auch stärker gefordert werden.
Die skandinavischen Schulmodelle seien so erfolgreich - was auch PISA zeigte - weil sie nicht so früh differenzieren würden und lange auch auf eine Notengebung verzichten. "Man darf nicht erwähnen, dass sich das erfolgreiche finnische Modell an der DDR orientiert", erklärt Wolfgang Steinig und lacht.
Der 58-Jährige erhofft sich eine Diskussion, wenn seine Studie im nächsten Jahr erscheint. "Der Politik und Gesellschaft sollten dann die Argumente deutlich werden, dass eine frühe Selektion zu nicht wünschenswerten Effekten führt", sagt Wolfgang Steinig. "Das dreigliedrige Schulsystem sollte abgeschafft werden, um auch Kindern aus der Unterschicht einen sozialen Aufstieg zu ermöglichen."

 

HINTERGRUND

30 Jahre Schreibsprachwandel

Wolfgang Steinig wollte mit seinen Studien im Abstand von 30 Jahren den Schreibsprachwandel in der Grundschule untersuchen. Der Versuchsaufbau war bei den Studien gleich. Der Wissenschaftler zeigte den Viertklässlern aus 23 Klassen einen Film und ließ sie anschließend einen Text schreiben. Es gab keine Vorgaben zur Textsorte oder Überschrift. Alle 254 Schüler waren 1972 einsprachig deutsche Kinder. Von den 276 Schülern im Jahr 2002 hatten dagegen 25 Prozent einen Migrationshintergrund. Wolfgang Steinig untersuchte Textumfang, äußere Gestaltung, Orthographie, Grammatik und Erzählgestaltung. Auch die soziale Schicht, das Geschlecht und die Einflüsse durch den Unterricht wurden betrachtet. Machten die Schüler in den 70er Jahren etwa sieben orthographische Fehler pro 100 Wortformen, waren es 2002 rund elf. Die größte Zunahme an Fehlern beobachtete Wolfgang Steinig bei der Groß- und Kleinschreibung. Hier unterliefen den Schülern 2002 etwa 1,4 Fehler pro 100 Wortformen, 1972 waren es rund 0,4. Aber die Rechtschreibung ist nicht nur schlechter geworden. 2002 benutzten die Schüler einen größeren Wortschatz. Im Gegensatz zu den Kindern 1972 haben sie etwa das zwei- bis dreifache an Wörtern, die sie exklusiv gebrauchten.

"Das Schulsystem der DDR ist in
Finnland erfolgreich", sagt Wolfgang Steinig.
Foto: Tim Meyer



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© Westfalenpost, 10. November 2007

Die Serie „Forschen in Siegen“ wurde in den Dokumentationsband „Ausgezeichnet - Deutscher Lokaljournalistenpreis 2007“ aufgenommen.