Zerlegt von Volksdroge Fußball

Beim Fußballtraining stoße ich an meine Grenzen.
Keine Koordination, keine Kondition
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ERNDTEBRÜCK. (wp) Sepp Herberger ist ein großer Philosoph. Ohne ihn gebe es viele Weisheiten nicht: "Der Ball ist rund - Das Spiel dauert neunzig Minuten." Er hat aber auch gesagt: "Der Ball hat immer die beste Kondition." Nach meinem Training mit der zweiten Mannschaft des TuS Erndtebrück 1895 stelle ich mir diesen Satz als Mahnung eingerahmt auf den Schreibtisch.
Anfang des Jahres habe ich mal wieder mit dem Joggen begonnen, um an meiner Kondition zu arbeiten. Meine Laufstrecke schaffe ich zwar immer besser, aber darüber hinaus scheint es noch nicht zu wirken. Hier im Flutlicht des Pulverwaldstadions wird mir schon nach 15 Minuten zum ersten Mal schwarz vor Augen. Erst will ich mir nichts anmerken lassen, dann muss ich mich doch an den Rand stellen. Das Herz rast, der Atem baut sich zu einer riesigen Wolke vor meinem Gesicht auf und der Schnodder sammelt sich in der Nase.

 Ich bin doch kein Magnet

Dabei hatte es mit einem kleinen Erfolgserlebnis angefangen. Als wir in einer Dreiergruppe Pass- und Dribbelübungen machen, halte ich den Ball lange am Fuß. Von einem Magneten bin ich trotzdem noch weit entfernt. Es sei denn, Fuß und Ball sind gleich geladen und stoßen sich ab.
Danach geht es an den Kopf. Aus drei Metern Entfernung wirft mir Ingo Roth den Ball entgegen und während er auf mich zufliegt, denke ich schon an den kommenden Schmerz. Natürlich treffe ich ihn nicht mit der Stirn, sondern mit der Kopfmitte. Leder und Luft können verdammt hart sein. Zuletzt sollen wir den Ball mit dem Oberschenkel annehmen und zurückspielen. "Versuch' den Ball zu kontrollieren!", ruft mir Trainer Dirk Wetter zu. Den Ball kontrollieren? Ich komme mir vor, als müsste ich ein rohes Ei aus vollem Wurf mit meinem Bein stoppen. Das kann doch gar nicht gehen.
"Wir befinden uns momentan in der Vorbereitungsphase und machen vor allem Konditionsübungen", erklärt Dirk Wetter. Es geht um Ausdauer, Schnelligkeit und Kräftigung nach der Winterpause. 

 Winterpause war zu lang

Der Trainer will seine Männer fit haben - es geht um den Aufstieg. TuS Erndtebrück 1895 II steht in der Bezirksliga momentan auf Rang eins. Am 2. März spielen sie das Lokalderby gegen SF Birkelbach. Das wollen sie gewinnen.
Am Rand des Spielfelds stelle ich mich während einer kurzen Verschnaufpause zu Murat Cebi, der sich gerade dehnt. "In der Winterpause nehme ich immer etwas zu und muss das erst wieder runter kriegen." Trotzdem hat er das 90-minütige Training durchgeackert. Meine Winterpause dauerte länger als nur eine Jahreszeit. Das spüre ich auf jedem Meter.
In der nächsten Einheit soll es ans Spielerische gehen. Sechs gegen sechs - zuerst jeder gegen jeden, dann mit einem zugewiesenen Gegenspieler. Ich muss gegen Gzim Helshani spielen. Meistens laufe ich ihm aber einfach nur hinterher. Dreimal bekomme ich doch den Ball. Einmal passe ich direkt zu einem Gegenspieler, beim zweiten Mal nimmt mir einer das Leder von hinten ab, und zuletzt dribbel ich den Ball in Zeitlupe ins Aus. Ich konnte ihn einfach nicht unter Kontrolle bringen. Aber ich bin hier das Bambi - nicht die großen Augen eines Rehkitzes sind mein Schutz, sondern die Possierlichkeit des Nichtkönnens. Es gibt keine Schmährufe, trotzdem würde ich manchmal gerne im Kunstrasen versinken.
"Rangehen!" - "Gelb, mach zu!" - "Ihr müsst in die Breite spielen!", brüllt Dirk Wetter vom Spielfeldrand. Es klingt trotz der Lautstärke noch motivierend. Anders hört es sich an, als Torwart Timm Schniegeler sauer auf seine Abwehrspieler wird, weil jetzt der Ball in seinem Tornetz hängt. Was er ruft ist eigentlich egal, er ist einfach nur wütend. Ein Fußballer muss wahrscheinlich so besessen sein, jeden verlorenen Ball zu verfluchen. Das ist vielleicht nicht gut fürs Herz, heizt aber die Leidenschaft an.
"Hier kann man eigentlich nichts anderes machen, außer Fußball spielen", sagt Henning Weber und lacht. Seit er sechs ist, spielt er beim TuS. Das sind jetzt 17 Jahre. Auch Murat Cebi ist seit 16 Jahren dabei. Fußball ist wahrscheinlich die einzige erlaubte Volksdroge, die auch schon Kindern verabreicht wird. "Wer einmal dabei ist, der bleibt auch", meint Dirk Wetter. Das Besondere am Fußball sei vor allem die Gemeinschaft, Egoisten kommen in diesem Sport nicht weit. "Man tritt als Team an und gewinnt auch zusammen."

 Im Nebel verschwinden

Für Dirk Beitzel, zweiter Vorsitzender der Fußballabteilung des TuS Erndtebrück, ist Fußball mehr als nur ein Sport. "Hier können die Jungs das Gefühl bekommen, dass sie nicht nur Einzelkämpfer im Leben sind." Das sei auch als Sozialkompetenz für das spätere Berufsleben sehr wichtig.
Als Trainingsabschluss setzt Dirk Wetter ein Drei-Minuten-Spiel an. Vier gegen vier. Ich muss draußen bleiben. "Lass die Jungs jetzt mal kurz durchspielen", sagt er zu mir fast etwas tröstend. Ich versuche, ihn entschlossen anzuschauen. So als sei die Pause eine Strafe für mich. Innerlich kennt mein Glücksgefühl keine Grenzen. Ich bin ihm dankbar, mich nicht weiter auf dem Spielfeld zerlegen lassen zu müssen.
"Nach dem Spiel ist vor dem Spiel." Ja Sepp, für dich vielleicht. Als sich der Nebel kurz vor Ende des Trainings in das Pulverwaldstadion senkt, würde ich gerne darin verschwinden. Ich hatte mit Koordinations- und Konditionsschwierigkeiten gerechnet, aber nicht mit diesem kompletten Einbruch. Und das machen die jungen Männer hier dreimal pro Woche. Respekt! Für mich kann es kein nächstes Mal geben. 

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Es gilt, eng aufgestellte Hürden zu überwinden und danach loszusprinten.
Der Trainer will unsere Sprungkraft stärken.
Irgendwie schaffe ich diese Übung, ohne die Hindernisse umzureißen.



Die Koordination mit dem Ball fällt mir schwer.
Im Spiel dribbel ich das Leder leichtfüßig ins Aus.
Fotos: Matthias Böhl

 



Dirk Beitzel (li.) und Trainer Dirk Wetter wollen den
jungen Männern neben dem Sport auch vermitteln,
dass sie im Leben keine Einzelkämpfer sein müssen.
Foto: Tim Meyer

 

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© Westfalenpost, 1. März 2008