Gegenöffentlichkeit
im Datenstrom

Projektgruppe untersucht Protestkulturen im Internet

Früher wurden mit roter Farbe Transparente gemalt und die Menschen liefen demonstrierend durch die Straßen. Wer heute gegen Unrecht angehen will, bastelt sich eine Webseite. Wie sich Protestkulturen im Internet organisieren und welche Mittel sie benutzen, untersuchen vier Forscherinnen an der Universität Siegen.
Ausbeutung von Angestellten, schlechte Arbeitsbedingungen in ausländischen Produktionsstätten, petizidverseuchtes Gemüse. "Man kann nicht mehr ganz so unbedarft konsumieren", antwortet Veronika Kneip auf die Frage nach den persönlichen Konsequenzen ihrer Forschung. Johanna Niesyto fügt schnell hinzu: "Aber wir versuchen immer auch die Seite der Unternehmen zu sehen." Seit Juli 2005 beschäftigen sich die beiden 26-Jährigen mit den Protestkulturen im Internet. Das hinterlässt Spuren.
Zum Team gehören noch die 27-jährige Annegret März, die wie Veronika Kneip und Johanna Niesyto neben dem Projekt promoviert, und die Professorin Sigrid Baringhorst.
Eine Fragestellung der Wissenschaftlerinnen ist, ob das Internet als Gegenöffentlichkeit zu etablieren ist. Dafür spricht, dass im Internet die "Gatekeeper"-Funktion der Medien wegfällt. Der "Schleusenwärter" entscheidet in der Zeitung oder im Fernsehen, welche Nachricht erscheint. Durch die Publikation im World Wide Web umgehen die Gruppen diese Hürde.

In die Tagesschau wollen alle mit ihrem Protest

Vor allem sei das für ressourcenschwache Akteure interessant, die sich auf anderen Wegen kein Gehör in den Medien verschaffen können, erklärt Sigrid Baringhorst. In die Tagesschau würden die Protestgruppen jedoch trotzdem gerne kommen, fügt Annegret März mit einem Lächeln hinzu.
In die Tagesschau schafften sie es nicht, aber die Medienresonanz war groß. 2001 gab es die erste deutsche Onlinedemonstration. Damals rief ein Menschenrechtsaktivist der Initiative "Libertad" dazu auf, die Webseite der Lufthansa mit so vielen Anfragen zu belasten, das die Übertragung der Aktionärsversammlung behindert wird. Damit sollte gegen die Beförderung von Abschiebehäftlingen in Lufthansa-Maschinen protestiert werden. Die Webseite des Unternehmens war dann nur 20 Minuten nicht zu erreichen, aber für die Organisatoren war die Aktion aufgrund des Medienaufkommens trotzdem ein Erfolg. "Letztendlich geht es bei den Protesten immer darum, Aufmerksamkeit zu bekommen", erklärt Sigrid Baringhorst. "Das ist das Minimalziel."
Onlinedemonstrationen fanden die Wissenschaftlerinnen aber selten unter den 109 untersuchten Kampagnen. Gerade mal elf Prozent der Protestgruppen nutzten diesen Weg. Man geht doch lieber noch auf die Straße. 94 Gruppen organisierten neben ihrem Auftritt im Internet Aktionen im physischen Raum. Die Forscherinnen kommen deswegen zu dem Ergebnis, dass das Internet vor allem ergänzend genutzt werde: für ausführlichere Informationen, zur Vereinfachung von Spendenaufrufen und für Protestschreiben.
Protestschreiben treten oft in Form von Mailomaten auf. Mittels eines Mailomaten kann man sich auf einer Protest-Webseite mit seinen Daten eintragen. Anschließend wird automatisch die Kampagnenforderung an die Adressaten weitergeleitet. "So kann eine Personalisierung des Protestes geleistet werden", erklärt Johanna Niesyto.
Die Mühen für eine Eigeninitiative von potentiellen Aktivisten sinkt damit. "One click to protest" lautet das Stichwort. "Es gibt ein Spannungsfeld bei den Protesten im Internet", sagt Veronika Kneip. "Es können viele mobilisiert werden, aber es wird weniger Engagement benötigt." Bei Onlinebefragungen stellten die Wissenschaftlerinnen jedoch fest, dass es eine kontinuierliche Aktivität unter den Teilnehmern an Onlineprotesten gibt. Oder es läuft wie bei "Attac" über die Identifikation mit der Organisation. Wer sich einmal engagiert hat, wird wahrscheinlich auch die nächste Initiative von "Attac" unterstützen.
Thematisch gibt es bei den Protestgruppen deutliche Schwerpunkte, auch wenn die Forscherinnen zwischen neuen und etablierten Organisationen unterscheiden. Neue Initiativen beschäftigen sich mit Umweltschutz (36,8 Prozent), Menschenrechten (33,7), Arbeitsbedingungen (32,6) oder der Medienfreiheit (6,3). Bei älteren Bewegungen stehen die Arbeitsbedingungen ganz oben (56,1) gefolgt von Menschenrechten (34,1) und Frieden (22).

Gesellschaftliche Normen verändern

"Primär zielen alle Gruppen darauf ab, gesellschaftliche Normen zu verändern", erklärt Professor Sigrid Baringhorst. Es werde nicht zum Boykott aufgerufen, sondern es gehe eher um die Skandalisierung einer Marke. Dafür übernehmen Kampagnen etwa die Sprache und das Design von Unternehmen, um sie zu unterlaufen.
"Die Gesellschaft, Unternehmen und Bürger sind durch das Engagement von Protestkulturen reflexiver geworden", erklärt Politikwissenschaftlerin Sigrid Baringhorst. Der Konsument fordere heute Verantwortungsbewusstsein der Firmen ein. "Die meisten DAX-Unternehmen haben mittlerweile eine Erklärung zu sozialer Verantwortung auf ihrer Webseite."

 

HINTERGRUND

Medienumbruch durch das Internet

Die Forschungsgruppe um Professor Sigrid Baringhorst untersucht Internetprotestkampagnen. Ausgangspunkt ist die Fragestellung: Wie hat sich die Protestkommunikation durch das Internet verändert. Zuerst stellten sie die historische Entwicklung von Protestkulturen anhand von drei Kampagnen dar: „Enteignet-Springer” (1967), „Brent-Spar” (1995) und „Lidl ist nicht zu billigen” (2005). Für eine erste Vollerhebung wählten sie dann 109 Kampagnen, die in den Jahren 1995 bis 2005 gegen Unternehmen geführt wurden. In einem dritten Schritt beschränken sie sich jetzt bei der Tiefenanalyse auf zehn Beispiele mit besonders hoher Medienresonanz. Sie untersuchen deren Webseiten, interviewen Initiatoren und Akteure der Protestgruppen und sprechen mit den Unternehmen, die Ziel des Protestes sind. Das Projekt „Protest- und Medienkulturen im Umbruch. Transnationale Corporate Campaigns im Zeichen digitaler Kommunikation” läuft im Rahmen des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs „Medienumbrüche”.

Annegret März, Johanna Niesyto, Veronika Kneip
und Professorin Sigrid Baringhorst (von links).
Foto: Tim Meyer

 

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© Westfalenpost, 5. Januar 2008

Die Serie „Forschen in Siegen“ wurde in den Dokumentationsband „Ausgezeichnet - Deutscher Lokaljournalistenpreis 2007“ aufgenommen.