HILDESHEIM. SOMMER 2006. In einer Stadt. Aus einer Stadt hinaus. Hildesheim. Historisch, zerbombt, wieder aufgebaut. Was befindet sich an der Peripherie einer Großstadt, die mit ihren 101786 Einwohnern auf Platz 79 von 81 Großstädten in Deutschland steht? Knapp 4000 Hildesheimer weniger als noch vor 10 Jahren. Ziehen noch einmal 2000 weg, wird aus dem Großstädtchen eine Kleinstadt. Hinter dem Bahnhof geht die Wanderung los. Im Uhrzeigersinn einmal rundherum.
Zwischen Kleingartenkolonien und der Bundesstraße 6 führt ein Weg aus der Stadt. Am Ende der „Scharlake“, der nördlichsten Straße, geht es rechts zum Flugplatz. Am Tor steht der Leiter der Motorfluggruppe des Aero-Clubs, Peter Berghoff. Der 58-jährige ehemalige Berufssoldat engagiert sich seit seiner Pensionierung vor fünf Jahren besonders intensiv für den Club. „Das Fliegen bedeutet mir mehr, als es manchmal gut tut. Es ist eine Art Sucht“, erklärt er. Beim Fliegen stehe man über den Dingen. Grenzenlose Freiheit. Ja, es sei so, wie Reinhard May singt. Das könne man nur verstehen, wenn man es selbst erlebt habe. Aber man dürfe nicht das restliche Leben vergessen. „Ich kann es mit der Familie vereinbaren“, sagt Berghoff und erzählt, dass er sich eigentlich sieben Tage in der Woche auf dem Flugplatz aufhält und selten vor 20 Uhr zu Hause ist. „Es macht nicht jeder so exzessiv wie ich.“
1912 landete zum ersten Mal ein Flugzeug auf dem kleinen Flughafen. Aber der Plan, Hildesheim ins wachsende Liniennetz der Lufthansa einzubinden, scheiterte. Von 1927 bis 1930 gab es dennoch fast tägliche Verbindungen. Hildesheim-München für 80 und Hildesheim-Venedig für 173 Reichsmark. Dann kam Hitler an die Macht und die Luftwaffe gründete eine Luftbildschule auf dem Gelände. Aufklärer wurden von hier aus über die Einsatzorte geschickt, um diese mit Fotos zu dokumentieren.
Das nördliche Gewerbegebiet. In einem klapprigen Golf fährt ein Mann vorbei und sieht mit grimmiger Miene aus dem Fenster. Lagerhallen, Computerläden, Fitnessclubs. In einem Wohnwagen wartet eine Frau wohl schon etwas länger. Auf dem Beifahrersitz ist sie über einem Sudoku-Rätsel eingeschlafen. In einer Seitenstraße lädt der Night-Club Cleopatra ein. Ein Schild neben der Eingangstür weist darauf hin, dass es für die Dienstleistungen der Damen auch ermäßigte Preise gibt.
Dann der Hafen. Klein, unscheinbar und wichtig für die Region. Das Büro von Klaus Marte, dem Geschäftsführer der Hafenbetriebsgesellschaft, atmet das Aroma der achtziger Jahre. Vor der Tapete aus braunem Kork steckt sich Marte eine Zigarette an und erzählt. Der Hafen wurde 1928 eröffnet. Er liegt im Zweigkanal Hildesheim, einem Nebenarm des Mittellandkanals. Das Ziel war damals: Kohle gegen Brot. Weil die umliegende Hildesheimer Börde als eines der ertragreichsten Landwirtschaftsgebiete gilt, konnte etwa Getreide verkauft und dafür Energieträger wie Kohle eingekauft werden. Es ist das „klassische Umschlagsgeschäft“, sagt Marte, was den Hildesheimer Hafen ausmacht. Heute wird über den Wasserweg zum Beispiel Zellulose für die Papierfabrik in Alfeld nach Hildesheim transportiert. In die andere Richtung werden Gipssteine aus dem Harz verschifft. „Wir sind nur ein kleines Rädchen, aber wenn das nicht funktioniert, funktionieren die großen Räder auch nicht“, sagt Marte und blickt dabei von der Kaimauer bis zum Ende seines Hafens. Er steht gerne hier, wo er alles überblicken kann.
Weiter über einen Feldweg, der neben einem Standortübungsplatz vorbeiführen soll. Nach wenigen Metern ist ein angerostetes Schild aufgestellt: „Militärischer Sicherheitsbereich – Unbefugtes Betreten verboten – Vorsicht Schußwaffengebrauch – Der Bundesminister der Verteidigung“. Am Himmel ein Drachen. Die Bundeswehr hat sich zurückgezogen. Heute kämpfen hier Menschen gegen Plastikfluggeräte an Nylonfäden.
Über einen Wall geht es in den Stadtteil Himmelsthür. Hier tragen die Straßen Politikernamen und die Tauben sind etwas scheuer als im Zentrum. Noch durch ein enges Gässchen und laut Karte sollte vorerst der westliche Stadtrand erreicht sein. Aber wo auf der Karte nur Brache ist, zieht sich jetzt ein Neubaugebiet gen Horizont. Halbfertige Existenzen, erfüllte Träume. Gestapelte Säcke mit Humus, Pflanzen stehen für die Beete bereit, unfertige Terrassen. Das ganze Wochenende wird das neue Heim herausgeputzt und man wartet, dass endlich der Farbgeruch aus dem Schlafzimmer verschwindet. Wann trifft man die Entscheidung, sich hoch zu verschulden, auf einem winzigen Grundstück ein Haus zu bauen, sich niederzulassen, dazubleiben? Und was ist, wenn man morgens aus dem Küchenfenster ins Wohnzimmer des Nachbarn schauen kann und Dinge sieht, die man nicht sehen möchte?
Ein paar Straßen weiter kommt ein Mann mit einer Plastiktüte in der Hand den Weg herunter. Seine Haut ist von einem glänzenden Fettfilm überzogen. Er durchsucht einen Mülleimer und er will angesprochen werden. Ohne Pausen zu machen, erzählt er: „Bis jetzt habe ich zwei Euro. Ich bin Rentner und bekomme nur 560 Euro im Monat. Mit einer Wohnung und einem Auto reicht das natürlich nicht. Die Rente ist dann schon weg. Von den Flaschen finanziere ich mein Leben. Hier ist die Konkurrenz nicht so groß. In der Stadt sammeln so viele Ausländer. Und mir ging es lange Zeit schlecht. Ich hatte eine innere Entzündung, die mich aufquellen ließ. Meine Finger sind immer noch kaputt. Die Hautärzte wussten auch nicht weiter. Seit zwei Jahren benutze ich jetzt diese Honiglotion und bin fast geheilt.“ Gerade als er eine kurze Pause macht, fährt der grimmige Mann in seinem Golf wieder ganz langsam vorbei. Etwa vier Stunden nach der ersten Begegnung im Gewerbegebiet. Und jetzt ist klar, was seine Aufgabe in diesem Spiel ist. Er ist der Boss. Er hat die Pfandmafia in Hildesheim aufgebaut und die Reviere verteilt. Er kontrolliert alles. Wären hier keine Zeugen, würde er den Rentner aus dem Weg schaffen. Aber er fährt vorbei. Durch die Honiglotion auf der Stirn des Mannes kämpft sich ein kleiner Schweißtropfen. Als sich eine Wespe auf seine Brille setzt und sich zur Augenbraue herüberbeugt, um Honiglotion zu saugen, ist der Mann wieder mit sich allein.
Das nächste Hindernis ist die Bundesstraße 1, die Hildesheim etwa im oberen Drittel durchtrennt. Weil die Füße bereits zu spüren sind, ist der Umweg über die Ampel weiter hinten keine Option. Direkt hinter einer Kurve ist eigentlich die ungünstigste Stelle, um die Straße zu überwinden. Die Autos fahren hier 100. Trotzdem los. Im Spurt und mit Sprüngen über Seiten- und Mittelplanke. Drüben. Auf der anderen Seite angekommen, taucht der Volksheld Australiens auf. Der Tierfilmer und Krokodilbezwinger Steve Irwin starb vor wenigen Monaten durch einen Rochenstachel, als er auf Tauchgang für ein Filmprojekt am Great Barrier Reef war. Jetzt steht er in Hildesheim an der B1 und beantwortet bereitwillig Fragen. Ob er in bestimmten Momenten solche Angst vor einem Krokodil hatte, wie man selbst vor den Autos? Er erklärt, dass man keine Angst haben darf und betet die Formel für alle Tierfilmer und Abenteurer herunter: „Du brauchst vor allem Respekt!“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, wendet er sich um und geht. Voller Respekt pocht das Herz neben dem Verkehrstrom ein bisschen schneller.
Am Rand des etwas außerhalb gelegenen Stadtteils Sorsum durch ein Landschaftsschutzgebiet. Es setzt platzartiger Regen ein. Der Wald ist hier sehr dicht und ein Baum am Wegrand gibt für den Moment Schutz. Ein Jogger kommt vorbei. Im Ohr Kopfhörer. Als einige Minuten später ein lautes Donnern ertönt und die Luft durch einen Blitz hell aufleuchtet, hat der Jogger den Highway To Hell erreicht.
Zehn Minuten später in einem kleinen Bushäuschen. Stadtteil Hildesheimer Wald. Durchnässt. Hier riecht es nach Zigaretten und aufgedrängten Küssen. Aber es ist trocken. Die Hälfte des Weges ist geschafft. Die Füße möchten gerne sprechen. Möchten sich vom Körper trennen und in den Bus steigen. Die Füße möchten nicht mehr. Und der Hunger macht auf Kumpel mit ihnen. Aber es muss weitergehen. Nicht der Weg ist das Ziel. Das Ziel ist das Ziel. Zumindest für die Füße.
Nach einer halben Stunde lässt der Regen nach. Durch eine kleine Straße geht es in Richtung Marienrode. Die Geschichte des Klosters Marienrode reicht zwar bis ins Jahr 1125 zurück, die Benediktinerinnen zogen jedoch erst 1988 hierher. 1806 wurde das damalige Zisterzienserkloster aufgegeben und bis 1986 von elf Pächterfamilien als Gutshof bewirtschaftet. Eine Nonne schreitet über den Hof und ihr Gewand flattert im Wind. Weil der Kopf wie die Füße bereits müde wird, reicht dieses Bild für eine Schlaglichtfantasie. Die Frau holt sich einen Hengst, der vor den Klostermauern weidet, besteigt ihn und reitet in wildem Galopp durch das Tor hinaus. Einfach so.
Marienrode ist klein und schnell durchquert. In Ochtersum geht es wieder durch Neubaugebiete, die wie Fata Morganas auftauchen und nicht in der Karte verzeichnet sind. Dem Ende des einen Neubaugebietes folgt ein nächstes. Wie ist bei dieser Baulust der Einwohnerschwund der Stadt zu erklären? Oder beginnt jetzt hier an den Rändern das wahre Leben? Dann geht die Orientierung verloren. Neubaugebiete werden heute nicht mehr mit dem Lineal gezeichnet, sondern von ehemaligen Waldorfschülern und Colani-Anhängern entworfen. Ohne ersichtliche Struktur ziehen die Straßen wild mäandernd dahin. Aber jetzt bloß nicht philosophieren. Nicht nachdenken, einfach weiter. Irgendwann führt ein Weg unter der Bundesstraße 243 entlang und ein Feld beginnt. Hier funktioniert die Karte wieder.
Der Feldweg endet an der Domäne Marienburg. Anstatt direkt links Richtung Itzum abzubiegen, führt eine Straße nach rechts aus der Stadt hinaus. Immer weiter bis die Grenzen Hildesheims durchbrochen sind und der Weg irgendwann auf einem Parkplatz vor dem Wald in Söhre endet. Dort steht der Förster Kurt Norbert Bald. Er lädt zu einer Rundfahrt durch sein Revier ein. Vom Parkplatz an der Gaststätte Söhrer Forsthaus blickt man ins Tal und kann auch große Teile Hildesheims sehen. Bald erklärt die geologischen Formationen. Das Gebiet des Hildesheimer Waldes ist im Trias entstanden, vor mehr als 200 Millionen Jahren. Im Jura brachte Tektonik die Region in Bewegung. Das unter hohem Druck plastisch reagierende Zechsteinsalz stieg auf, und es kam zu einer Sattelbildung im Bereich des Höhenzuges Hildesheimer Wald. Das bedeutet, dass ein Berg auftauchte. Später wurde der Sattel wieder durch Erosionen abgetragen und auf der Kuppe entstand eine Senke. „Die so genannte Reliefumkehr“, erklärt Bald. Dann zeigt er auf das Gebiet vor dem Wald: „Und das ist die 130 Quadratkilometer große Hildesheimer Börde. Eine waldfreie Landschaft mit dem wahrscheinlich fruchtbarsten Boden in Deutschland. Wissen Sie, was „Börde“ heißt?“, fragt Bald. „Es kommt aus dem Niederdeutschen und bedeutet ‚tragen’“, schiebt er schnell hinterher.
Zurück im Wagen, riecht es nach Pups. Ob das der Kopov-Bracke war? „Ne, wenn der Hund das gewesen wäre, würde das schärfer riechen. Ich denke, dass zieht von der Papierfabrik in Alfeld herüber“, sagt Bald. Demnächst wird dort auch die gerade angelieferte Zellulose verarbeitet, die jetzt noch in den Lagerhallen des Hafens steht.
Zurück in den Stadtgrenzen. Itzum rauscht fast unmerklich vorüber. Am östlichsten Punkt der Umrundung führt eine Abzweigung in Richtung des Waldgebietes um den Galgenberg. Es beginnt ein Trimm-dich-Pfad, der schon lange nicht mehr benutzt wurde. Die Schilder hängen schief und sind angerostet. Die Trimm-dich-Pfade wurden in den 70er Jahren vom Deutschen Sportbund erdacht. Mit Unterstützung der Politik, den Krankenkassen und der Wirtschaft wollte man gegen die Kreislauferkrankungen ankämpfen. Heute stählt man den Körper lieber in Hallen mit vielen Geräten, bummernder Bassmusik und spähenden Singles.
Am Karrenweg endet das Waldstück und die Ostseite der Stadt ist erreicht. Der Weg verläuft im unteren Teil neben dem Niedersächsischen Landeskrankenhaus. 1827 als Hildesheimer Heil- und Pflegeanstalt im Michaelis- und Magdalenenkloster gegründet, bezog man Ende der 1970er Jahre den Neubau am Stadtrand. In dem Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie gibt es heute 405 Betten. Heide Spieckermann erinnert sich noch an ihre Anfangszeit. Mit 18 Jahren begann sie ihre Arbeit im Landeskrankenhaus und war am Ende der ersten Tage vollkommen erschöpft. „Für mich ist eine Welt zusammengebrochen, weil man sich für alles verantwortlich fühlte“, erzählt sie. Sie musste erst die Balance finden, um ihre Arbeit nicht vom Mitleid bestimmen zu lassen. Vor der Eingangstür des Krankenhauses sitzen ein Junge in Punkklamotten und seine Freundin in schwarz. Sie drehen sich Zigaretten und trinken Cola. In ihren Gesichtern stehen Sorge, Gleichgültigkeit und Verwirrung. 14 Tage dauert eine Entgiftung im Krankenhaus. Die beiden wollen jetzt gerade nicht angesprochen werden.
Der Weg endet bald, das Ziel ist nah. Den Füßen ist das egal. Sie verabschiedeten sich vor etwa einer Stunde endgültig und zogen sich mit dem Hunger in eine Parallelwelt zurück. Ein Schokoriegel von der Tankstelle konnte beide nur für Minuten besänftigen.
Dann zerschneidet die Bundesstraße 1 zum zweiten Mal den Weg. Diesmal ist jedoch eine Ampel erreichbar nah. Die letzten Kilometer führen durch das östliche Gewerbegebiet. Still ist es jetzt zwischen den Autohändlern und Logistikfirmen. Die Stadt macht dicht. Und schluckt den Wanderer.