Archiv der Kategorie: Reportage

Keine Zeit für’s Mittagessen – Eine grüne Wahlkampfreportage aus Hamburg

An der Wand hängt ein Abreißkalender: „10 Tage bis zur Wahl“. In den Gesichtern der Wählkämpferinnen und Wahlkämpfer in der Hamburger Landesgeschäftsstelle ist heute zu erkennen, dass sie am liebsten alle Blätter auf einmal herunterreißen würden, um direkt am 20. Februar nur noch gespannt auf die ersten Hochrechnungen zu warten. Aber vor ihnen liegt noch ein heißer Endspurt in diesem intensiven, kurzen Wahlkampf.

Am 28. November 2010 erklärten die Grünen in Hamburg, sie wollen die schwarz-grüne Koalition verlassen. Die Landesvorsitzende Katharina Fegebank sagte damals: „Der gemeinsame Geist und die große Verlässlichkeit, die diese Koalition bis zum Sommer getragen haben, sind verflogen.“

Heute ist der 10. Februar 2011. Noch 10 Tage bis zur Bürgerschaftswahl in Hamburg.

Im Flur der grünen Landesgeschäftsstelle stapeln sich Wahlkampfzeitungen: „Für Hamburg Deine Stadt“. Daneben liegen Kisten voller Postkarten: „Stell Dir vor es ist Wahl, und danach siehst Du nur noch rot.“ Als ich das Großraumbüro betrete, sind gerade alle beschäftigt. „Setz‘ dich erst mal irgendwohin.“ In der Ecke steht nur noch ein freier Stuhl. Überall Gewusel, Telefonate, konzentrierte Mienen.

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Rauchen, angeln und träumen in Istanbul

Ein Streifzug in Istanbul, Oktober 2008.

Überall riecht es nach Fisch. Auf der Galata-Brücke reihen sich die Angler wie Legehennen aneinander. In kleinen Eimern zappeln und ersticken langsam lütte Fische, die die Männer aus der Bosporusbucht des Goldenen Horns ziehen. Alle zwanzig Meter gibt es einen Stand mit Zubehör: Haken, Schnüre, Gewichte und Becher voller Schrimps – als Köder. Wenn die letzten Angler die Brücke verlassen haben, kleben auf der Brüstung nur noch ein paar angetrocknete Krustentierfragmente. Und es stinkt.

Auf der anderen Seite der Brücke drei Kähne, auf denen halbe, gebratene Fische in Brot verkauft werden – und Touristenschiffe. Mit einem dieser Boote geht es raus Richtung Bosporus, von Europa nach Asien, unter großen Hängebrücken hindurch. Auf dem anderen Kontinent, am Ufer entlang, stehen Häuser mit verschlossenen Jalousien. Auf den Terrassen Sitzmöbel, unter Schutzbezügen verpackt. Wenn es an Bord dieses Schiffes Lautsprecher geben würde, müsste der Kapitän jetzt erzählen, dass in diesen Villen Hollywoodstars leben, wenn sie nicht gerade in Berlin mit der gesamten Familie am Wannsee wohnen, weil sie mit Quentin Tarantino drehen. Aber weil das keiner erzählen kann, kommt ständig ein Mann herumgelaufen und will Chips, Tee und frisch gepressten Saft verkaufen. Es ist windig.

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Für einen neuen Arbeitsbegriff Verbrechen begehen

Alle Verbesserung im Politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln?

Friedrich Schiller
Über die ästhetische Erziehung des Menschen

Sie hätten sich kein besseres Jahr aussuchen können. 2007 werden 400 Jahre Mannheim gefeiert und die Stadt putzt sich heraus. Bereits vor sieben Jahren starteten im Hinblick auf das Jubiläum verschiedene Baumaßnahmen. Für die SAP-Arena wurde ein Anschluss an den neuen Stadtbahnring Ost umgesetzt, man sanierte die Fußgängerzone Breite Straße und die Blumenbeete am Wasserturm sehen heute noch etwas akkurater und bunter aus. Gerade wird rund um die Wasserspiele wieder geharkt und gezupft. Man ist beschäftigt. Auch wenn man dafür vielleicht nur einen Euro bekommt. In Mannheim waren im Mai 2007 8,6 Prozent aller Erwerbspersonen arbeitslos. Die Stadt lag damit knapp unter dem Bundesdurchschnitt von 9,1 Prozent.

Regisseur Simon Solberg und Dramaturg Volker Bürger arbeiten seit April 2007 mit acht Hartz-IV-Empfängern an Pimp The City. Mit der ARGE Job Center Mannheim und dem Gemeinschaftswerk Arbeit und Umwelt e. V. wurde ein Team aus Langzeitarbeitslosen zusammengestellt. Das Ziel: Mannheim zu pimpen, aufzumotzen. Die beiden Männer vom Nationaltheater Mannheim hatten bereits im November letzten Jahres die Reihe Making of The Band entwickelt. Making of The Bandwar ein halbdokumentarisches Format, das von vier Musikern handelte, die Helden werden wollten, um die Stadt zu verändern. Dabei kam es bereits zu einer Zusammenarbeit mit Hartz-IV-Empfängern. Das reizte Solberg so sehr, dass er anschließend begann, an einer neuen Idee zu arbeiten: „Wir wollten den Starkult umdenken und in Menschen investieren, die am Rand stehen.“

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Am Rande einer Stadt

HILDESHEIM. SOMMER 2006. In einer Stadt. Aus einer Stadt hinaus. Hildesheim. Historisch, zerbombt, wieder aufgebaut. Was befindet sich an der Peripherie einer Großstadt, die mit ihren 101786 Einwohnern auf Platz 79 von 81 Großstädten in Deutschland steht? Knapp 4000 Hildesheimer weniger als noch vor 10 Jahren. Ziehen noch einmal 2000 weg, wird aus dem Großstädtchen eine Kleinstadt. Hinter dem Bahnhof geht die Wanderung los. Im Uhrzeigersinn einmal rundherum.

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Glasnost des Theaters

Bei der „Intemporale24“ machen 40 Studenten ein soziales Experiment und bringen in 24 Stunden ein Theaterstück auf die Bühne

Christoph Schlingensief hat mal vom „Scheitern als Chance“ gesprochen. In den Interviews auf der Webseite von „Intemporale24“ sprechen auch viele der Beteiligten vom Scheitern. Die meisten meinen das positiv oder haben zumindest keine Angst davor. Es ist der Prozess, der zählt. Ein soziales Experiment, eine Grenzerfahrung.

Außer den Räumlichkeiten, die drei Etagen der ehemaligen Bernward-Buchhandlung am Hohen Weg, und 40 Personen, die sich in 15 Gruppen aufteilen, ist erstmal nichts da. Am Freitag um 20 Uhr wird ein Thema ausgelost und 24 Stunden später soll es die Premiere des Stückes geben. Dramatiker werden am Laptop sitzen, eine Bühne wird gebaut, Schauspieler müssen ihre Rollen finden und die Regisseure sollen alles in eine Form bringen. Haben sich hier also 40 Studenten zum fröhlichen Scheitern zusammengefunden?
Weit gefehlt. Um 20 Uhr sind es arbeitswütige Enthusiasten, die gespannt warten, welches der fünf Themen gezogen wird. Keine Angst, zu scheitern. Keine Angst vor dem Schlafentzug.

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