An der Wand hängt ein Abreißkalender: „10 Tage bis zur Wahl“. In den Gesichtern der Wählkämpferinnen und Wahlkämpfer in der Hamburger Landesgeschäftsstelle ist heute zu erkennen, dass sie am liebsten alle Blätter auf einmal herunterreißen würden, um direkt am 20. Februar nur noch gespannt auf die ersten Hochrechnungen zu warten. Aber vor ihnen liegt noch ein heißer Endspurt in diesem intensiven, kurzen Wahlkampf.
Am 28. November 2010 erklärten die Grünen in Hamburg, sie wollen die schwarz-grüne Koalition verlassen. Die Landesvorsitzende Katharina Fegebank sagte damals: „Der gemeinsame Geist und die große Verlässlichkeit, die diese Koalition bis zum Sommer getragen haben, sind verflogen.“
Heute ist der 10. Februar 2011. Noch 10 Tage bis zur Bürgerschaftswahl in Hamburg.
Im Flur der grünen Landesgeschäftsstelle stapeln sich Wahlkampfzeitungen: „Für Hamburg Deine Stadt“. Daneben liegen Kisten voller Postkarten: „Stell Dir vor es ist Wahl, und danach siehst Du nur noch rot.“ Als ich das Großraumbüro betrete, sind gerade alle beschäftigt. „Setz‘ dich erst mal irgendwohin.“ In der Ecke steht nur noch ein freier Stuhl. Überall Gewusel, Telefonate, konzentrierte Mienen.
Straffer Wahlkampf mit einer ordentlichen Portion Zaubertrank
Die Grünen heißen in Hamburg GAL, Grün-Alternative Liste, und manch einer nennt sie auch Gallier. Man möchte meinen, diesen extrem straffen Wahlkampf können sie wirklich nur mit einer ordentlichen Portion Zaubertrank überstehen, damit die Römer der SPD und CDU ihr Dorf nicht niederrennen. Aber die Stimmung ist gut, die Obstschalen sind gefüllt und auch aus den stressroten Köpfen kommen immer wieder herzhafte Lacher.
Wahlkampfmanager Holger Michel schreibt gerade den Entwurf eines Briefs, der Anfang nächster Woche im Namen der Spitzenkandidatin Anja Hajduk an 200.000 Haushalte in Hamburg verschickt werden soll. Darin soll den Hamburgerinnen und Hamburgern klar gemacht werden, dass sie mit dem neuen Wahlsystem ihre Stimmen auf Rot-Grün verteilen können, wenn sie schon nicht den Grünen alle Stimmen geben wollen. Die Zielgruppe sind also die Wechselwähler. Olaf Scholz (SPD) ist in den letzte Wochen immer weiter in den Umfragen nach oben geklettert. Jetzt scheint sogar eine Alleinregierung möglich.
„Essen ist fertig!“ Carlos hat in der Geschäftsstellen-Küche eine Suppe gekockt. Holger Michel nimmt kurz die Ohrenschützer ab, mit deren Hilfe er sich gerade auf seinen Text konzentrieren will: „Jetzt nicht, lass uns später etwas vom Italiener holen.“ Die Hauswurfsendung muss heute noch in den Druck gehen.
„Nach so einem Wahlkampf hat man gar kein Gefühl mehr.“
Anjes Tjarks, stellvertretender Landesvorsitzender, sitzt mit der Landesvorsitzenden Katharina Fegebank und dem Landesgeschäftsführer Mirko Seffzig in einem kleinen Büro und weiß nicht so recht, was er von seinem aktuellen Gefühl halten soll. „Nach so einem Wahlkampf hat man gar kein Gefühl mehr.“ Ihm geht es wohl auch deshalb so, weil er gerade unter einer sehr vielfältigen Belastung steht. Vor drei Monaten hat er sein Referendariat an einem Gymnasium begonnen, zu Hause warten zwei kleine Kinder auf ihn, er kämpft im Wahlkreis Rahlstedt für sich selbst, aber vor allem geht es ihm um die Grünen. „Als Landesvorsitzender habe ich natürlich eine Vorbildfunktion. Die Partei steht für mich eindeutig im Vordergrund und nicht meine eigenen Ambitionen.“
„Der Brief ist fertig!“ Holger Michel geht ihn mit Katharina Fegebank und der Pressesprecherin Silke Lipphardt durch. Sie diskutieren über Formulierungen: „Alleinregierung der SPD“, „Wir wollen die SPD nicht alleine regieren lassen“, … Dann klingelt bei Silke Lipphardt schon wieder das Telefon: „Geht ihr mal ran, wir brauchen hier noch fünf Minuten.“ Es ist gleich 15 Uhr, die Hamburger Spitzenkandidatin Anja Hajduk ist bei einem Interview beim Hamburger Abendblatt, danach bei SAT1. Der Brief für die Hauswurfsendung muss noch mit ihr abgestimmt werden. Es kommt etwas Nervosität auf. „Heute ist ein schwieriger Tag“, sagt Silke Lipphardt. „Abstimmungen klappen nicht, weil Anja heute so viele Termine hat.“ Holger Michel fügt hinzu: „So chaotisch wie heute war es noch nie.“
Dann sind die drei mit dem Brief fertig, auf dessen Rückseite auch eine Kurzfassung der „10 Punkte für Hamburg“ steht. Darin ist beschrieben, wie sich die Hamburger Grünen einen stadtverträglichen Verkehr, eine bessere Kita-Betreuung, ein gutes Bildungssystem oder eine bessere Bürgerbeteiligung vorstellen.
Nur manchmal frage sie sich, warum sie sich diesen Wahlkampf-Rausch ohne Privatleben und mit nur wenig Schlaf zumutet.
Und jetzt muss endlich mal das Essen vom Italiener geholt werden. Katharina Fegebank übernimmt das heute und erzählt auf dem Weg: „Der Moment, als wir uns entschieden haben, aus der Koalition zu gehen, hat so viele Emotionen ausgelöst. Die geben mir Kraft, das alles zu überstehen.“ Nur manchmal frage sie sich, warum sie sich diesen Wahlkampf-Rausch ohne Privatleben und mit nur wenig Schlaf zumutet. Aber so gehe es ja allen. „Ich bin beeindruckt, wie unsere Kreisverbände mitziehen, mit welcher Begeisterung im Team Wahlkampf gemacht wird“, sagt Katharina Fegebank und lächelt. „Jeder engagiert sich hier weit über das Normalmaß.“
Als kurz darauf alle vor ihren Nudelgerichten im Büro des Wahlkampfteams sitzen, entspannen sich ihre Mienen mit jedem Bissen etwas. Holger Michel erzählt während des Essens mit einem Lächeln im Gesicht, wie ihn Anja Hajduk gestern Nacht um 23 Uhr angerufen und begeistert von der ZDFinfo-Sendung „ZDF Log in“ erzählt hat. „Da musste man ganz schön auf Zack sein“, habe sie zu ihm gesagt. Holger Michel freut sich wohl auch deswegen so über dieses positive Feedback, weil er seine Rolle als Wahlkampfmanager sehr nüchtern betrachtet: „Wenn am Ende ein gutes Ergebnis rauskommt, war ich nie hier. Schneiden wir schlecht ab, bin ich schuld.“ Mehr als ein Dutzend Wahlkämpfe hat Holger Michel schon bestritten, auch wenn dies der erste in der Hauptverantwortung ist. „Ich bin praktisch ein Feuerlöscher. Ich gehe dorthin, wo es gerade brennt und dann bin ich wieder weg.“
Als kurz darauf alle wieder an ihren Arbeitsplätzen sitzen, kommt ein Schrei aus Katharina Fegebanks Büro: „Verdammt!“ Sie hat ein Glas Wasser über ihrem Computer ausgeschüttet und jetzt ist das Gerät erst mal tot. So etwas passiert an einem solchen Tag dann natürlich auch noch.
Anja Hajduk hetzt heute von einem Termin zum nächsten.
Aber wo ist eigentlich die Spitzenkandidatin? Anja Hajduk hetzt heute von einem Termin zum nächsten. Mit Pressesprecher Enno Isermann warte ich im Foyer der „Patriotischen Gesellschaft“, wo Anja Hajduk gleich an einer Diskussionsveranstaltung zum Thema „Umwelthauptstadt Hamburg“ teilnehmen wird. Vorher müssen die beiden schnell noch eine letzte Freigabe besprechen. Hier soll noch etwas umformuliert, dort zwei Absätze zusammengefasst werden. „Hast du noch den Freitag für mich?“, fragt Anja Hajduk. Enno Isermann gibt ihr die Terminliste für den nächsten Tag und im nächsten Moment läuft sie auch schon die Treppe zu der Veranstaltung hoch.
Am nächsten Tag erwische ich Anja Hajduk zwischen zwei Terminen doch noch kurz am Telefon. Der Wahlkampf sei sehr intensiv und konzentriert, sagt die Hamburger Spitzenkandidatin. Die Belastung sei auch deswegen in dem letzten Monat so hoch, weil die Medien sich für die Hamburger Wahl ganz besonders interessieren. Immerhin ist es die Auftaktwahl für das Superwahljahr 2011. „Die spannende Frage, die natürlich auch von den Medien gespielt wird, ist jetzt doch, schafft es die SPD alleine oder nicht“, sagt Anja Hajduk. „Und wir können diese Gunst der Stunde nutzen und den Leuten klar machen, wenn sie eine rot-grüne Regierung wollen, können sie mit dem Wahlrecht auch eine rot-grüne Regierung wählen.“
Und dann kommt auch Anja Hajduk noch einmal auf die Sendung „ZDF Log in“ zu sprechen, weil ihr das Format so viel Freude gemacht habe. „Mir macht Wahlkampf Spaß, wenn ich mit Menschen unmittelbar ins Gespräch komme. Die Konfrontationen darf auch gerne kritisch sein, wenn ich die Zeit bekomme, darauf zu reagieren.“ Die unschöne Seite an einem Wahlkampf sei der straffe Zeitplan, der einem nicht einmal Raum für Mittagessen bereit halte, sagt sie, während ich sie wahrscheinlich von ihrem Abendessen abhalte.
Dann muss Anja Hajduk auch schon wieder weiter. Es ist Wahlkampf. Keine Zeit zum Luft holen.
Der Text ist während meiner Zeit als Online-Redakteur bei den Grünen entstanden.