Ein Drama der Stimmen

„Der Kick“ als Hörspiel. Ein Theaterbesuch mit einem Blinden.

„Ich bin der Mann mit dem weißen Stock.“ Schon bei unserem ersten Telefonat macht sich Jonas über meine Frage lustig, wie ich ihn denn erkennen werde. Wir wollen uns für ein Experiment treffen. Natürlich gibt es Berührungsängste. Er taucht aus der S-Bahn auf, wir begrüßen uns, gehen los. Sachte, behutsam berührt er meinen Arm. Jonas ist blind, und wir besuchen gemeinsam „Der Kick“.

„Das Geräusch, als die große Kiste das erste Mal verschoben wurde, war ein ganz toller Moment“, erzählt der 27-Jährige. Im Vergleich zu den Stimmen tritt dieses Geräusch für ihn unvermittelt, massiv auf. Er muss an den Sprungkasten in der Schule denken, ein Klavier, das verschoben wird. Jonas mag die Bühne im Gewerbehof überhaupt sehr gern. Für ihn ist es ein kalter, offener Raum, der ihn manchmal an experimentelle, elektronische Musik, das alte Tempodrom oder an ein leeres Schützenfestzelt erinnert. Über Klänge in Räumen kann Jonas ohnehin lange reden. Die Stimmwelten. Zum Beispiel wie es sich anhörte, als sie auf einem Segeltörn von Norwegen nach Island in einem Industriehafen anlegten und sich dort alles bewegte. „Gespenstisch!“

Die Stimmen der beiden Schauspieler kann er dagegen nicht im Raum lokalisieren. Sie tragen Mikroports. Mir fällt vor allem die Unruhe im Publikum auf. Ich versuche mir vorzustellen, wie Jonas das Stühlerücken und Husten empfindet. Ihn stört es nicht. Er findet es reizvoll, wie die Schauspieler die Personen sprechen: „Die Frau hat teilweise extrem verschiedene Stimmen. Geil. Vor allem, wenn sie die Männer gesprochen hat.“ Er braucht nicht zu sehen, dass Susanne-Marie Wrage dabei auch ihre Körperhaltung ändert. Er hört das.

Jonas beeindrucken die Atmosphärenwechsel. Die Plastizität der Charaktere und die unterschiedlichen Orte, die er sich zu den Menschen denkt. Er beschreibt sie als eine Linie mit Brechungen. Schwer, dieses Bild nachzuvollziehen. „Dann stell’ dir vor, du schwimmst durch’s Meer und hast unterschiedlich warme Strömungen“, erklärt Jonas. Irgendwann verstehe ich ihn, wir brauchen aber Zeit, um eine gemeinsame Sprache zu finden.

Wir reden noch lange dann. Über die Menschen in Potzlow, das Theater, Science Fiction. Und über Wahrnehmung. Als wir wieder draußen sind und zum Alexanderplatz schlendern, verlassen wir die große Straße mit den Cafés und biegen in eine Seitenstraße. „Das Geräusch liebe ich“, sagt Jonas, als wir an einer sirrenden Trafostation vorbeikommen. Wir schweigen.

Aus der Festivalzeitung des Berliner Theatertreffens 2006, Mai 2006