Torge Schnieder und seine Kollegin versorgen einen Patienten im Krankenwagen

Retten, schlafen, retten, schlafen

Als Rettungsassistent kann man nicht ein Leben lang arbeiten, aber das macht den Job nicht schlechter als andere. 24 Stunden im Einsatz mit dem Rettungsassistenten Torge Schnieder.

Als würde ihm im Schlaf einer ins Gesicht schlagen. Torge schreckt hoch und wirft das Laken zur Seite. Um sechs Uhr morgens geht der Alarm los. Der zigarettenschachtelgroße Funkempfänger steckt im Ladegerät, das mit der Beleuchtung zusammengeschaltet ist. Alarm, Licht an, raus aus dem Bett. Zwischen Alarmierung und losfahren vergeht nicht einmal eine Minute. „Akkon hat verstanden.“ Die Leitstelle gibt Zielort, Name und eine oft vage Beschreibung des Problems durch. Dann heißt es, Gedanken ausschalten, Konzentration bis zum Anschlag.

Frühschichtverkehr, aber morgens fahren die Leute schneller zur Seite. An den Häuserwänden flackert das blaue Licht, die beiden Männer steigen aus und ziehen die Latexhandschuhe über. Notrucksack, EKG und Beatmungsgerät. Kiloschwer. Diesmal aber nur der zweite Stock.

Vor 22 Stunden hat Torge Schnieder seinen Dienst begonnen. Erst noch ein Küsschen durchs Fenster für Freundin Wiebke und dann Leben retten. Zumindest wenn alles gut geht. Torge ist einer von 13 Rettungsassistenten auf der Wache der Johanniter-Unfall-Hilfe in Göttingen. Seit über drei Jahren arbeitet er hier auf einer halben Stelle neben seinem Studium. Wirtschaftsingenieurwesen mit dem Schwerpunkt Feinwerktechnik. Wenn es klappt, will er später mal in der Entwicklung von medizinischen Geräten arbeiten.

Es ist nicht sein Traumjob, aber er macht die Arbeit gerne.

Das Retten begleitet ihn seit dem Zivildienst in Osnabrück. Es ist nicht sein Traumjob, aber er macht die Arbeit gerne. Vor allem muss er Geld für seinen Sohn aufbringen, der nach der Trennung bei der Freundin lebt. „Der Rettungsdienst ist einfach ein guter Job, was das Verhältnis von Zeitaufwand und Bezahlung angeht“, erzählt der 27-Jährige. Aber es stört ihn sichtlich, über Geld in Verbindung mit seinem Sohn zu reden.

Schmierblutung. Der Entbindungstermin ist in zwei Tagen, aber der werdende Vater schaut so verwirrt, als erwarte er die Geburt auf dem Wohnzimmertisch in wenigen Sekunden. Klare Sache, keine Panik. Schmierblutungen sind bei einer Schwangerschaft nicht ungewöhnlich. Die Frau bekommt ihr zweites Kind und ist relativ gefasst. Torge und Viktor, sein Partner in diesem Dienst, entscheiden sich ohne weitere Untersuchungen für einen Transport.

Entbindungsstation Uniklinik. „Wenn wir einen Patienten abgeliefert haben, liegt die Verantwortung nicht mehr bei uns“, erzählt Torge. Rettungsassistenten arbeiten nicht an einem Schicksalsammelalbum. Und im Krankenhaus schreckt ihn die Bürokratie ab. Während seines Klinikpraktikums wurde ein Patient nach einem 14-Meter-Fenstersturz eingeliefert. „Als er im CT lag, konnte man sehen, dass der Kopf mit Blut vollief und er in wenigen Minuten sterben würde“, erzählt Torge Eine Krankenschwester rief trotzdem nach Aufklebern, mit denen die Aufnahme des Patienten dokumentiert wird. Er habe den Moment des Respekts vermisst, sagt Torge und schüttelt mit dem Kopf.

Noch über eine Stunde Dienst. Schlafend, wenn nichts mehr passiert.

Heute bringen sie keinen tragischen Fall. Die schwangere Frau ist in den Händen der Hebamme und Torge meldet den Einsatz bei der Leitstelle als beendet. Zurück im Bett zeigt die Uhr 6.45. Noch über eine Stunde Dienst. Schlafend, wenn nichts mehr passiert.

1989 wurde durch das „Gesetz über den Beruf der Rettungsassistentin und des Rettungsassistenten“ erstmals eine rechtliche Grundlage für den Beruf geschaffen. Zuvor gab es im deutschen Rettungsdienst lediglich Rettungssanitäter, die den Status eines Hilfsarbeiters hatten. Die erforderliche 520 Stunden-Ausbildung kam keiner Berufsausbildung gleich. Heute sind zwei Jahre die Regel. Die Verantwortung der Rettungsassistenten wächst und es kommen neue Pflichten im Rahmen der Notkompetenz-Regelung dazu. Das heißt, so lange kein Notarzt am Einsatzort ist, hat der Rettungsassistent lebenserhaltende Maßnahmen durchzuführen. Der Rahmen dieser Maßnahmen ist jedoch eng gesteckt und der Rettungsassistent muss selber beurteilen, ob er die geforderten Kompetenzen im Einzelfall besitzt.

21.45 Uhr, am Tag davor. Groner Landstraße 9a. Heute zum zweiten Mal, aber jetzt ohne Polizei. Nicht wie vor ein paar Stunden, als die Männer der Feuerwehr das Schloss aufbohren mussten, weil die Person hinter der Tür seit dem 24. Dezember von einem Bekannten vermisst wurde. „Wenn da drinnen eine Leiche liegt, würde man das hier draußen schon riechen“, sagt Torge. In der Wohnung eine Schießerei, der Fernseher läuft. Dann fällt das Schloss heraus und die beiden Polizisten gehen als Erste rein. Keine Leiche, nur gepackte Koffer, viel Müll und eine Reihe Raviolidosen auf einem Schrank. Ohne Koffer abgehauen oder doch draußen gestorben? Fehlfahrt, zurück zur Wache.

„Es gab eine Zeit, da hatte ich immer schon vor dem Frühstück einen hängen. Neun Dienste hintereinander.“ Suizide in der Weihnachtszeit.

„Es ist ein gutes Gefühl, wenn die Menschheit einen braucht“, sagt Torge mit einem Lächeln. „Pille Palle Einsätze“ nennen sie den Großteil ihrer Arbeit. Er weiß den Sarkasmus wohl zu dosieren, aber irgendwann muss die Anspannung raus. Im Süd-West-Teil der Stadt, dem Einsatzgebiet des Johanniterwagens, sind es oft die Besoffenen, die auf der Trage landen. „Ein Sache habe ich definitiv in diesem Job festgestellt: Man muss sein Leben selber in die Hand nehmen.“ Da ist es nicht immer leicht, die Fassung zu bewahren. Torge kann das. Selbst mit stoischen Alkoholikern wird solange diskutiert, bis die mehr oder weniger freiwillig mitkommen. Und diese Einsätze sind Torge letztendlich lieber, als die mit den Toten. „Es gab eine Zeit, da hatte ich immer schon vor dem Frühstück einen hängen. Neun Dienste hintereinander.“ Suizide in der Weihnachtszeit.

Der zweite Einsatz in der Groner Landstraße. „’Murphys Gesetz’“, sagt Torge. „Patienten sind immer oben und Treppenaufgänge sind immer schmal.“ Im Flur des 11. Stocks kommt den beiden Männern ihr Notfall entgegen. Von der Leitstelle hieß es: „Schock und Wiederbelebung“. Verwirrt, aber aufrecht steht er vor ihnen. Ein blutunterlaufenes Gesicht, hat aber nichts mit dem Notruf zu tun, wie ein Mann daneben versichert.

Behandeln auf dem Flur geht natürlich nicht, also zurück in das Appartement. „Wir stellen da nichts auf dem Boden ab“, sagt Torge, bevor er in die Wohnung geht. Drinnen ein süßlich stechender Geruch. Er reißt das Fenster auf, während Viktor das EKG anschließt und einen Tropf anlegt. Ein klebriger Boden aus unterschiedlichsten Flüssigkeiten. Eine Matratze als Bett, dunkel angelaufen und fleckig. Auf dem Tisch eine braune Flüssigkeit in einem Einmachglas, das einer der herumsitzenden Männer austrinken wird. In den Gesichtern der Anwesenden alkoholisierte Gleichgültigkeit, als sie erzählen, wie sie auf ihren Freund herumgedrückt hätten. Sie dachten, er wäre tot. Herausfinden, was genau passiert ist, kann Torge nicht. Die Männer kommen aus Polen und eine Verständigung ist schwierig.

Torge Schnieder muss für Menschen in Ausnahmesituationen ein Ruhepol sein.

In der Uniklinik bekommen sie heraus, dass der Mann hier nicht gemeldet ist und keine Krankenversicherung hat. Das bedeutet Selbstzahler, 150 Euro. „Europäische Praxisgebühr“, wie die Dame am Empfang spöttisch sagt. Manche aus der Groner Landstraße 9a sind regelmäßige Kunden. Beim Rettungsdienst nennen sie das „Einfuhrtag“. Es gibt Kandidaten, die sich kurz vor Ablauf ihrer dreimonatigen Duldung, einweisen lassen, um damit die Frist für weitere drei Monate zu verlängern, vermutet Torge und das ärgert ihn. Die Probleme dieser Menschen sind ihm nicht gleichgültig, aber das hat doch nichts mehr mit seinem Beruf zu tun.

Am Nachmittag war Torge noch mit ganz anderen Lebensumständen konfrontiert. Behaglichkeit mit Einbauschränken, Medikamenten in Tagesdöschen und sauberen Teppichen. Eine 90-jährige Frau war in ihrer Wohnung gestürzt und konnte nicht mehr aufstehen. Die Folge, eine riesige Beule und eine nervöse Enkeltochter. Torge muss für Menschen in Ausnahmesituationen ein Ruhepol sein. Die Wogen glätten und Sicherheit vermitteln.

Trotz all der sensiblen Arbeit ist auch der Rettungsdienst ein Geschäft. Die Stadt organisiert den Rettungsdienst selber, etwa durch die Berufsfeuerwehr, oder sie beauftragt Hilfsorganisationen. Alle fünf Jahre wird neu ausgeschrieben und kalkuliert. Der Träger des Rettungsdienstes hat Sätze von 440 Euro für einen Rettungswageneinsatz und zwischen 750 und 1000 Euro wenn noch ein Notarzt dazukommt, wobei der jeweiligen Hilfsorganisation nur ihre Kosten ersetzt werden.

Bei den Johannitern möchte man vor allem mit Qualität überzeugen. Torge erzählt, auf der Wache sind sie besonders stolz auf den hohen Anteil von angehenden Akademikern, die sich engagieren. Regelmäßige Fortbildungen über die Pflicht hinaus und der Einsatz neuester Geräte sprechen dafür.

Viktor sticht zweimal mit der Braunüle zu. „Jetzt piekst es noch mal“, sagt er so aufbauend wie möglich. Keine Chance. Torge versucht es am anderen Arm. Die Frau bleibt tapfer, den Zugang können die beiden trotzdem nicht legen. „Das ärgert mich“, sagt Torge später mit einem leichten Anflug von Zweifel und Viktor fügt hinzu: „Aber wir wissen ja, dass wir es können.“ Die Frau hat wahrscheinlich einen Schock und der ist gefährlich. Torge erklärt, dass ein Schock versteckt auf kleinster Zellebene stattfindet und oft nur etwa eine Stunde bis zum Tod bleibt. Versäuerung, innere Blutungen. „Außen kann alles heil aussehen, aber drinnen ist die Hölle los. Das ist nicht wie im Erste-Hilfe-Kurs.“ Im Fahrstuhl im Krankenhaus fängt die Patientin an zu zittern und Torge streichelt ihr tröstend über die Beine.

23 Uhr: „Ich will jetzt nach Hause.“

23 Uhr. „Ich will jetzt nach Hause.“ Torge spielt mit einem Kugelschreiber, der ihm immer wieder aus der Hand fällt. Seine Augen sind rot und müde. Trotzdem wird er in dieser Nacht noch zweimal von dem schrillen Alarmton geweckt werden und in weniger als einer Minute im Rettungswagen sitzen. Eine orientierungslose Frau mit Asthmaanfall und ein Mann, der auf dem Bordstein sitzend von der Polizei gefunden wurde. Beide haben nicht nur zu tief ins Glas geschaut, sondern sind wohl eher hineingefallen. Die Frau ist brav, der Mann ziert sich. Trotz tiefer Schnittwunde auf dem Handrücken will er nicht mit ins Krankenhaus. Im Nieselregen unter einer Laterne redet Torge so lange auf ihn ein, bis er in den Rettungswagen steigt. Am Ende des 24-Stunden-Dienstes sind es sieben Einsätze. Nicht viel, aber genug.