First We Take Fahrrad, Then We Take Berlin

Am Ende des zweiten Tages überlege ich manchmal doch, ob ich mich jetzt wirklich noch mal aufs Fahrrad schwingen und vom Glashaus, zum Astra, zum BiNuu und wieder zum Glashaus radeln soll. Ne, kein Bock mehr. Ich lasse also Zoot Woman ausfallen und fahre direkt zu Eilza And The Bear. Wenn man sich nicht einfach treiben lassen will, sind beim First We Take Berlin (4. + 5. September 2014) Festival nicht nur die Ohren sondern auch die Beine gefragt. Und ich hatte mir ein taffes Programm zusammengestellt…

In Playlisten nach Perlen tauchen

Hilfreich für die Vorabrecherche war die Soundcloud-Playlist von Testspiel.de:

 

Diese Liste habe ich dann auf meine eigene Playlist eingedampft:

 

Zeitplan mit den Spielzeiten der BandsEine weitere Erleichterung für die Planung war eine Funktion auf der Seite der Veranstalter. Hier konnte man Favoriten zu einer persönlichen Running Order hinzufügen – drucken und teilen als Funktion wäre noch ganz nett gewesen. Den Zeitplan habe ich noch mal favorisiert, um Überschneidungen zu vermeiden und alles nicht vollkommen in Stress ausarten zu lassen. Das hat nicht wirklich geklappt, weil das Festival einfach viel zu dicht gepackt ist mit seinem schönen Angebot. Ich habe es in Kauf genommen, nur drei Stücke einer Band zu hören und schnell zur nächsten zu hetzen. Ärgerlich nur, wenn dann Ballet Scholl in der Berghain Kantine mit 20 Minuten Verspätung beginnen. Aber die waren eh so spannend wie ein Fußballspiel zwischen Deutschland und San Marino.

Während der Festivaltage galt also die Devise: “Man muss nehmen, was man kriegen kann.”

 Am Donnerstag starte ich mit Amatorski im Glashaus. Melancholischer Synthie-Gitarren-Pop aus Belgien. Okay, fesselt mich aber nicht lange.

 

Das Glashaus: Ein schöner Raum auf dem Gelände beim Badeschiff. Beim Sound gibt es jedoch durchaus Verbesserungsbedarf. Der langgezogene Raum besteht aus Beton und wird an einer Seite von einer Glas-Stahl-Wand begrenzt. Wenn nicht genug Leute da sind, führt diese Architektur zwangsläufig zu einem halligen, Höhen-betonten Sound. Das kann sehr anstrengend sein. Hier würde ich jedoch gerne mehr Konzerte sehen, wenn an dem Raumklang noch etwas gearbeitet wird.

Sivu mit Emotions-Surrogat

Auf dem Weg zu Sivu im Privatclub kurzer Stopp im Lido bei der Berliner Emo-Rockband CrashCaptains. Die Unfallkapitäne machen einen guten kraftvollen Sound, erinnern mich an Jimmy Eat World (Frontmann Jim Adkins konnte ich kürzlich auch für mein Setlisten-Projekt ENCORE gewinnen). Die Amerikaner sind aber musikalisch ungleich zwingender. Und außerdem stinkt es an diesem Abend im Lido Kopfschmerzen-stark nach Plastik. Kommt das von dem First-We-Take-Berlin-Banner an der Bühnenrückseite?

 

Dann schnell weiter in den Privatclub. Dort hat Sivu zur gleichen Zeit wie die CrashCaptains begonnen. Nur mit einer Gitarre steht der junge Mann auf der Bühne und spielt zerbrechliche Songwritermusik. Sein Gesang geht mir aber sehr schnell auf die Nerven, weil jedes dritte Wort so klingt, als müsste er es unter Tränen zwischen den Lippen hindurchpressen. Ein Emotions-Surrogat statt echter Gefühle. 

 

Die müssen noch mal auf die Weide

Nach den ersten drei Bands, von denen mich noch keine richtig gekickt hat, fällt mir auf, dass die Vorabrecherche natürlich viel zu oberflächlich war. Ein Song reicht natürlich nicht aus, um einschätzen zu können, welche Band es bringt. Oder sie haben es live einfach nicht drauf. Meine Euphorie über dieses Clubfestival-Konzept stoppt das trotzdem nicht. Klar, es ist stressig, aber wenn eine Band scheiße ist, wartet einen Kilometer weiter schon die nächste. Und das alles für 22 Euro – ein Schnäppchen.

Bevor es gleich mit dem Folk von Phox weitergeht, noch mal schnell zurück ins Glashaus zu Gengahr. Auch hier merke ich, die können mich mit ihrer Gitarren-Kopfstimmen-Atmosphären-Mucke nicht einfangen.

Ähnlich wird es mir auch morgen bei Ωracles im Astra gehen. Auch so eine Kopfstimmen-Band (Bon Iver war einfach zu erfolgreich), wenn auch deutlich psychedelischer als Gengahr. Und beide natürlich ganz anders als Bon Iver. Ein befreundeter Musiker hat früher bei Konzerten von jungen Bands immer gesagt: “Die müssen wohl noch mal auf die Weide.” Bei Ωracles kann ich irgendwann auch nicht mehr den Blick von dem selten blöden Nasenring des Keyboarders abwenden. Manchmal komme ich in meinem Kopf einfach über die Frage “Warum?” nicht hinaus.

 

Konserven- vs. Livemusik

Bei Phox im Privatclub bin ich vom Sound der sechs Musiker aus Wisconsin total beeindruckt. Eine anscheinend uralte Tretorgel, Banjo, Gitarren, Bass, sanftes Schlagzeug und die schöne Stimme von Monica Martin. Zärtlicher Folk-Country wie ich ihn auch bei HEM liebe. Doch bei Phox wird mir später etwas passieren, was ich bei diesem Festival immer nur andersherum erlebt habe. Viele Bands haben mich zu sich gezogen, weil ich ihre Konservensongs gut fand. Phox finde ich live klasse, bin aber dann von ihrem gleichnamigen Album enttäuscht. Martin wechselt beim Singen unaufhörlich zwischen Brust- und Kopfstimme, ohne dabei große Melodien zu formen. Das ist auf die Dauer einfach langweilig und kann nicht von der warmherzigen Musik aufgefangen werden.

 

Endlich steht mein Höhepunkt auf dem Programm. Als ich gesehen habe, dass die Londoner Band Flyte zu First We Take Berlin kommt, habe ich mir sofort das Ticket gekauft. Ich habe sie irgendwann im Internet entdeckt und war von dieser melancholisch, poppigen Musik gefangen. Dazu noch diese herrlich verschrobenen Videos.

Auf der Bühne sind sie dann auch so spielfreudig wie sympathisch. Nach dem Konzert nimmt sich Will Taylor für ein kurzes Interview Zeit, und ich kann ihn auch für mein Setlisten-Projekt gewinnen. Was er im Gespräch erzählt, bestätigt, was ihre Musik transportiert. Texte und Melodie sind für Will Taylor das Zentrum ihrer Songs. Er will originelle Popmusik mit guten Texten schreiben. Flyte bewegen sich dabei auf der schmalen Brücke des Pop, die über den süßlich-stinkenden Käse des Mainstreams führt. Dessen sind sie sich bewusst, und deshalb lässt sich die Band beim Schreiben auch nicht von anderer Musik beeinflussen oder von Plattenfirmen reinquatschen. Will Taylor nennt es “nucleus”, was er mit in den Proberaum bringt. Dann wächst das Ding im Wechselspiel der vier Londoner – Will Taylor (Gesang, Gitarre), Nick Hill (Bass, Gesang), Sam Berridge (Keyboards, Gitarre, Gesang), Jon Supran (Schlagzeug, Gesang). Seit März 2013 machen sie zusammen Musik, arbeiten hart, machen jeden Tag nichts anderes als Musik. Das merkt man. Sie leben und lieben ihre Musik. Von Flyte werden wir mehr hören.

 

Sinkane oder die große Enttäuschung

Und weil das Gespräch mit Will Taylor so schön war, ist es natürlich schon wieder viel zu spät für Sinkane im Postbahnhof. Gehetzt, das Fahrrad abgestellt und zum Eingang geeilt, bämm, und schon liege ich auf dem Boden. Fuck, die Prellung am Brustkorb schmerzt noch drei Tage später. Und für was das alles? Sinkane ist live die größte Enttäuschung dieses Festivals. Schafft er es auf seinem Album Mean Love ein warme und entspannt tanzbare Bass-Synthie-Country-Melange zu mischen, klingt sein Kopfstimmen-Gesang auf der Bühne brüchig und blutleer. Neben sich hat er drei Musiker stehen, die so gut wie gelangweilt ihr Programm runterreißen. Wissen die eigentlich, für wen sie gerade spielen?

 

Dann überraschen die Aktion-Schluffis Bonaparte im Postbahnhof mit einem unangekündigten Auftritt, bei dem es neben Musik auch Weintrauben gibt. Und weil Frontmann Tobias Jundt so hungrig ist, verspeist er beim Ausflug ins Publikum fast das IPhone einer Zuschauerin.

Den nächtlichen Abschluss bilden Oy aus der Schweiz. Modisch verrückt, muskalisch ernst und konzentriert. Mastermind Joy Frempong fummelt sich mit Samples und Loops durch die Afro-Synthie-Musik, wie ich es vorher noch nie bei einer Musikerin erlebt habe. Echt spannend, doch die Müdigkeit treibt mich dann irgendwann nach Hause.

Tag 2: Gib mir noch mal einen Höhepunkt

Auch wenn es eine Erholungsphase bis zum nächsten Tag gibt, starte ich mit einer gewissen Erschöpfung. Und dann gleich die große Enttäuschung: Glass Animals fallen aus – Reiseprobleme. Aber wie hätten sie das überhaupt schaffen sollen,  wo sie doch direkt einen Tag später ihre USA-Tour beginnen? Dann eben träumerische Frauen. Sandra Kolstad fängt auf dem Arena-Gelände im Our/Berlin Sterne aus der Luft. 

Weiter zu Ωracles (siehe oben) und dann die Norweger Atlanter im Comet Club – Teil der umfassenden norwegischen Front bei First We Take Berlin. Kaktos ist ein starker Song. Aber ein bisschen wie Motorpsycho verlieren sie sich in endlosen Improvisationen und Gitarrenkaskaden.

 

Barr Brothers im Privatclub sind wieder eine diese ganz und gar amerikanischen Bands. Musiker, bei denen man merkt, dass sie als Kinder nicht die Flasche sondern direkt ein Instrument in die Hand gedrückt bekommen haben. Folk-Rock mit Harfe, auch wenn die leider in dem extrem dichten Sound etwas verloren geht und sich Brad Barr zu stark auf seine Gitarreneffekte konzentriert und dabei den Gesang vernachlässigt. Nette Unterhaltung, von der ich aber nicht mehr brauche.

 

Die Verspätung von Ballet School in der Berghain Kantine (siehe oben) bringt dann meinen Zeitplan durcheinander, doch mein schneller Aufbruch sorgt nicht für die gewünschte Abwechslung. Denn Highasakite (gesprochen Heiserkeit, nein, Quatsch) sind mit ihrem Synthie-Pop so aufregend wie die fragwürdigen Plateauschuhe der Sängerin.

Richtig dicker Indie-Rock zum Abschluss

Jetzt muss ein Knaller zum Abschluss her. Und der kommt mit der Londoner Band Eliza And The Bear. Im BiNuu spielen sie ihren liebevollen Indierock + Trompete so energiegeladen, dass die müden Beine nicht stillstehen können. Ihr mitgröl-Song Friends macht gute Laune und die sechs Musiker sind herrlich anzusehen mit ihrer ehrlichen Spielfreude. Allen voran der Keyboarder Callie Noakes, der so dick wie leidenschaftlich die eigenen Songs abfeiert. Herrlich. Auch Eliza And The Bear konnte ich dann noch für mein Setlisten-Projekt Encore gewinnen.

 

Und dann war Schluss. First We Take Berlin hat mich begeistert, auch wenn ich nicht ganz so viele Entdeckungen gemacht habe, wie ich es mir vorher ausgemalt hatte. Nächstes Jahr bin ich auf jeden Fall wieder dabei.