Archiv der Kategorie: Texte

Siamesische Zwillinge mit einer Seele

Jens Lekman, Mai 2006, „Privatclub“ Berlin. Ein Abend für die Tiefkühltruhe. Einfrieren, aufbewahren.

Das ist doch dekadent! Sechs bildhübsche Frauen stellt sich der 25-jährige Mann auf die Bühne. Die hängen an seinen Lippen, achten auf jede Handbewegung. Eine Art Robert-Palmer-Gedächtnisauftritt – Addicted To Women. Nur mit dem Unterschied, dass diese Frauen keine Models sondern einfach gute Musikerinnen sind. Auf die Frage, warum er ausschließlich mit Frauen arbeite, antwortet Jens Lekman mit einem verständnislosen Blick: „Es waren die besten Musiker, die ich finden konnte.“

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Glasnost des Theaters

Bei der „Intemporale24“ machen 40 Studenten ein soziales Experiment und bringen in 24 Stunden ein Theaterstück auf die Bühne

Christoph Schlingensief hat mal vom „Scheitern als Chance“ gesprochen. In den Interviews auf der Webseite von „Intemporale24“ sprechen auch viele der Beteiligten vom Scheitern. Die meisten meinen das positiv oder haben zumindest keine Angst davor. Es ist der Prozess, der zählt. Ein soziales Experiment, eine Grenzerfahrung.

Außer den Räumlichkeiten, die drei Etagen der ehemaligen Bernward-Buchhandlung am Hohen Weg, und 40 Personen, die sich in 15 Gruppen aufteilen, ist erstmal nichts da. Am Freitag um 20 Uhr wird ein Thema ausgelost und 24 Stunden später soll es die Premiere des Stückes geben. Dramatiker werden am Laptop sitzen, eine Bühne wird gebaut, Schauspieler müssen ihre Rollen finden und die Regisseure sollen alles in eine Form bringen. Haben sich hier also 40 Studenten zum fröhlichen Scheitern zusammengefunden?
Weit gefehlt. Um 20 Uhr sind es arbeitswütige Enthusiasten, die gespannt warten, welches der fünf Themen gezogen wird. Keine Angst, zu scheitern. Keine Angst vor dem Schlafentzug.

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Ach du dickes Ei!

Hildesheimer Studenten schreiben und produzieren ein Theaterstück innerhalb von 24 Stunden

Zu welcher Uhrzeit das Stück plötzlich ins Splatterhafte rutschte, können die vier Dramatiker nicht sagen. Es muss in den frühen Morgenstunden gewesen sein. Es hatte mit dem „philosophalen Ei“ angefangen und jetzt tauchen am Ende des Stückes zwei Puppen mit abgetrennten Köpfen auf.

Wenn man sich nicht zum Schlafen hinlegen will oder kann, sucht sich der Kopf eben andere Kanäle. Knapp 24 Stunden sind die Schreiber in diesem Moment schon auf den Beinen und bis zur Premiere der „Intemporale24“ sind es noch etwa zehn Stunden.
Der künstlerische Prozess bei diesem Projekt ist außergewöhnlich offen. Das Publikum darf überall hin. Den Schauspielern zuschauen, wie sie sich bei einer Aufwärmübung durch einen imaginären Wald kämpfen oder den Dramatikern gegenübersitzen, während sie brainstormen, recherchieren und schreiben.

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Hubertus Heil: „Die Gefahr, zum Arschloch zu mutieren, ist immer da.“

Hubertus Heil sitzt als SPD-Abgeordneter für den Wahlkreis Peine/Gifhorn im Bundestag. Was Opposition bedeutet, hat der 32-jährige Nachwuchspolitiker in seiner Karriere bisher noch nicht erlebt. Gut kennt er dafür jene Grabenkämpfe, bei denen von Sachfragen nichts mehr übrig bleibt.

Eine Festung aus Glas, Stahl und Beton am Spreeufer. Im siebten Stock sitzt ein junger Mann hinter einem großen Holztisch. Schwarzer Anzug, rotgestreifte Krawatte. Neben diversen Mappen und Tagesplänen stehen drei Bilder auf dem Tisch. Ein privates Hochzeits- und ein Urlaubsbild, sowie ein breit lachender Gerhard Schröder.

Neben den Bildern liegt ein blasser Stein. Mit ihm wollte eine Frau Anfang 2004 die Scheibe der Geschäftsstelle der SPD in Peine einwerfen. Sie hat den Stein dann aber lieber drinnen abgegeben, weil den Dreck ja die Sekretärinnen hätten wegmachen müssen. Die Beinahe-Täterin war unzufrieden mit der Gesundheitsreform.

Hubertus Heil ist 32 Jahre alt und sitzt seit 1998 als Abgeordneter des Wahlkreises Peine/Gifhorn für die SPD im Deutschen Bundestag. Er wiegt den Stein in seiner Hand hin und her und sagt: „Irgendwann möchte ich ihn der Frau zurückgeben, ohne dass sie noch Lust hat, damit die Scheiben einzuwerfen.“

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Retten, schlafen, retten, schlafen

Als Rettungsassistent kann man nicht ein Leben lang arbeiten, aber das macht den Job nicht schlechter als andere. 24 Stunden im Einsatz mit dem Rettungsassistenten Torge Schnieder.

Als würde ihm im Schlaf einer ins Gesicht schlagen. Torge schreckt hoch und wirft das Laken zur Seite. Um sechs Uhr morgens geht der Alarm los. Der zigarettenschachtelgroße Funkempfänger steckt im Ladegerät, das mit der Beleuchtung zusammengeschaltet ist. Alarm, Licht an, raus aus dem Bett. Zwischen Alarmierung und losfahren vergeht nicht einmal eine Minute. „Akkon hat verstanden.“ Die Leitstelle gibt Zielort, Name und eine oft vage Beschreibung des Problems durch. Dann heißt es, Gedanken ausschalten, Konzentration bis zum Anschlag.

Frühschichtverkehr, aber morgens fahren die Leute schneller zur Seite. An den Häuserwänden flackert das blaue Licht, die beiden Männer steigen aus und ziehen die Latexhandschuhe über. Notrucksack, EKG und Beatmungsgerät. Kiloschwer. Diesmal aber nur der zweite Stock.

Vor 22 Stunden hat Torge Schnieder seinen Dienst begonnen. Erst noch ein Küsschen durchs Fenster für Freundin Wiebke und dann Leben retten. Zumindest wenn alles gut geht. Torge ist einer von 13 Rettungsassistenten auf der Wache der Johanniter-Unfall-Hilfe in Göttingen. Seit über drei Jahren arbeitet er hier auf einer halben Stelle neben seinem Studium. Wirtschaftsingenieurwesen mit dem Schwerpunkt Feinwerktechnik. Wenn es klappt, will er später mal in der Entwicklung von medizinischen Geräten arbeiten.

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